90
Minuten Aufenthalt
(Begegnung
mit einem Engel)
Eine
wahre Weihnachtsgeschichte von Richard Jung
30
Meter rechts seitwärts der Lok steht die kleine vereinsamte Tanne
im knietiefen Schnee. In der Ferne, vielleicht ein Kilometer entfernt,
schimmern die schlecht verdunkelten Fenster eines kleinen polnischen
Bauerndorfes in die Schnee-Einsamkeit der Nacht. Das Bellen eines
Hundes klingt wie ein fernes Echo, irgendwo dort auf einer unbedeutenden
Nebenstrecke der Eisenbahn in Ostpolen.
Rhythmisch und
bösartig scheint die Lok das Haltesignal anzufauchen und ihre
Lichter blinzeln aufreizend in den müde fallenden Schnee. Qualmschwaden
hüllen die Lok und die drei Personenwagen ein und ziehen sich
träge auflösend den Truppentransportzug entlang, wo sie
dort bei den letzten Panzern auf den flachen Eisenbahnwagen in der
Ferne zwischen der Schwärze der Winternacht und dem grauen Schnee
langsam verschwinden. Die Sterne blitzen kalt und erbarmungslos
auf den jungen Kompaniechef herunter, den seine Soldaten trotz seiner
25 Jahre den "Alten" nennen, wie er jetzt dasteht und frierend und
stampfend das Haltesignal anmotzt.
Weihnachten
1942 - Heiliger Abend
Vor
vier Tagen noch im warmen Südfrankreich, schnelles Verladen der
Panzer-Pionier-Kompanie - viel zu schnell-, ein letztes Bad im Meer.
Eine erfahrene Heeresverwaltung hat alle Arten Marketenderwaren
ausgeschüttet, damit wir den nicht erhaltenen Heimaturlaub vergessen,
zum Trost und zur Beruhigung gewissermaßen. An deren Auswirkungen
denkt jetzt der "Alte", dann gewahrt er die Tanne im Schnee. Gedankenverloren
stapft er auf das einsame Bäumchen zu und freut sich, wie sich
seine Zweige erleichtert heben, wenn er mit lässigen Bewegungen
seiner Stiefel den Schnee abschlägt. Fetzen trunkenen Grölens
schallen zu ihm herüber - Weihnacht, Fest des Friedens und der
Versöhnung, Heiliger Abend. Der "Spieß" mit seinen 29 Jahren
der älteste Soldat der Kompanie, beobachtet seinen Chef vom Abteilfenster
aus und stolpert dann geräuschvoll über die ausgestreckten
Beine des Zugführers 3. Zug, eines gerade 20-jährigen Leutnants,
der trübsinnig im Eck hockt und vom Heimweh geplagt die Bierflasche
in seiner Hand anstiert. Waren wir nicht gerade vor ein paar Stunden
an seinem Elternhaus vorbeigefahren, das er seit gut einem Jahr nicht
mehr betreten hat?
"Wir müssen
doch irgendwo noch ein paar Kerzen haben", murmelt der Spieß
vor sich hin und kramt polternd in den Kisten herum, als wollte er
den Leutnant zum Mittun zwingen. Er findet dann auch die Kerzen in
der Alarmkiste. "Komm, Bub, wir machen Weihnachten", meint er und
versucht den Leutnant mit einem erneuten Tritt gegen das Schienbein
für sein Vorhaben zu begeistern, "einen Christbaum, Kerzen und
einen besinnlichen Chef haben wir schon!" "So ein Quatsch", murmelt
der, reißt sich aber dennoch aus seiner alkoholgeschwängerten
Lethargie und stolpert aus der stickigen Wärme hinaus in die
Kälte der Winternacht. Dann machen die drei aus der einsamen
Tanne einen Weihnachtsbaum, mit Bindedraht und Wachskerzen, einen
Traum von einem Weihnachtsbaum.
Drei einsame Gestalten
starren dann in die Lichter, deren ruhiger Glanz mit den eiskalt erscheinenden
Sternen wetteifert. Das Grölen in den Personenwagen des Transportzuges
verstummt langsam, und da schlurfen sie heran, die Kameraden, vermummt
wie Vorzeitmenschen, vielleicht wie damals die Hirten, schweigsam
mit erstaunten Augen. Ein stiller Kreis umsteht dann das Wunder. Wenn
eine Kerze flackert, sieht man dann und wann die aufgerissenen Augen
in den dunklen Gesichtern. Keiner sagt etwas, nicht mal der "Alte",
der sonst selten nichts zu sagen weiß. Sie stehen einfach so
herum und jeder von ihnen ist mit seinen Gedanken ganz allein und
ganz weit weg.
Da entsteht Bewegung
an einer Seite. Da drängt sich doch jemand durch den Kreis der
stummen Gestalten. Ja, was ist denn das? Ein langes weißes Gewand,
ein Engel, vielleicht 18 oder 19 Jahre, ein etwas zerrupfter Engel,
möchte man bei näherem Hinsehen meinen. Das goldene Stirnband
mit dem Stern ist verrutscht. Man kann unschwer erkennen, dass der
Engel einen weiten Weg durch den Schnee bis hierher zurückgelegt
hat. Ein Mensch, der nicht mehr an Wunder glaubt, hätte auch
festgestellt, dass ein Pappflügel traurig und durchnässt
herunterhing, das lange weiße Gewand sonst einem etwas profaneren
Zweck gedient hat und dass die nackten Füße des Engels
in klobigen Männerschuhen steckten.
Wir aber glaubten
an Wunder in dieser Nacht, in der Weihnachtsnacht 1942, irgendwo,
an einer unbedeutenden Nebenstrecke der Eisenbahn in Polen.
Quelle:
"Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit", ein Buch des Volksbundes
Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Kassel 2002
Volksbund
Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
Werner-Hilpert-Straße
2
34112 Kassel
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